Die Neue Zeitung 21.09.1949


Fritz Kraus
Ernst Jüngers Tagebuch im Kriege

"Strahlungen" - unter diesem Titel will Ernst Jünger alles das vereinigen, was er an persönlichen Aufzeichnungen aus der Zeit des zweiten Weltkrieges zu veröffentlichen hat. Der Begriff, ebenso der Physik wie der Astronomie, aber etwa auch dem Spiritismus vertraut, ist höchst bezeichnend für einen Autor, der es mehr und mehr gelernt hat auf die geheimen "Signaturen" der Dinge zu achten und der es immer stärker als seine Aufgabe empfindet, die Sichtbarkeiten der Welt und des Lebens, denen er sich seit je mit leidenschaftlicher Inbrunst anheimgegeben hat, abzulesen als Hieroglyphen, deren Sinn sich nur einer "neuen Theologie im Scheine der Feuerwelt" offenbare. Bereits der Dichter der "Marmorklippen" befand sich, deutlich erkennbar, auf diesem Wege, dessen Spuren da und dort schon im "Abenteuerlichen Herzen", ja noch früher aufleuchteten; und der erste Teil der Tagebuchaufzeichnungen, der scheinbar mehr äußerer Bestandsaufnahme zugewendet blieb, ließ doch an vielen Stellen "Gärten und Straßen" transparent werden auf die tiefere Bedeutung dessen, was sie dem Heger und Marschierer zu erleben gaben. Was nun, im engeren Sinn unter das Kennwort "Strahlungen" zusammengefügt, der deutschen Öffentlichkeit dargeboten wird (Ernst Jünger: "Strahlungen", Tübingen 1949, Heliopolis-Verlag, 648 S., DM 18.80), schließt sich mit einem Abstand von sieben Monaten an jene früheren Notizen an, in denen der Leser den Autor aus Kirchhorst an den Westwall und dann auf dem Vormarsch durch Frankreich begleitet hatte. Das neue Buch umfaßt Jüngers Tätigkeit im Stabe des deutschen Oberkommandierenden in Frankreich, die von einer kurzen Abkommandierung zur Kaukasusfront in zwei Abschnitte zerteilt wird, sowie das Leben in Kirchhorst nach der Rückkehr aus Frankreich bis zu dem Tage, als die amerikanischen Panzer in den Heimatort einrollten.

Wert und Problem der Tagebücher

Tagebücher selbst zu veröffentlichen, ist neuerdings - auch im Ausland, man denke an Gide, Green und manche andere - so üblich geworden, daß man von einer neuen Literaturgattung sprechen könnte. Jünger bringt diese Neigung im Vorwort seines neuen Buches mit der modernen Geschwindigkeit des Daseins in Zusammenhang, wofür auch die Rapidität spricht, mit der die Publikation den notierten Begebnissen und Erlebnissen nachzueilen sucht. Es lassen sich noch manche andere Gründe angeben, nicht zuletzt der Wunsch, möglichst unmittelbar "existentiell" vor dem Publikum zu erscheinen. Zweifelsohne kommt diese Mode einer Zeit entgegen, deren Tatsachensinn sich sonderbar mit einer bis zur Indiskretion gehenden Neugier im personalen Bereich paart - jener Neugier, welche die publicity und den Starkult zu unwahrscheinlicher Entfaltung bracht hat. Doch die Gefahr dieser Mode ist nicht zu übersehen. Sie droht, ein literarisches Halbfabrikat zu liefern, das sich vom Kunstwerk durch eine gewisse Sorglosigkeit der Form vom echten Dokument aber durch seine "Gemachtheit" unterscheidet. Die Zweideutigkeit, die darin liegt, offenbart sich etwa, wenn, Ernst Jünger einen letzten Teil von Aufzeichnungen, der später auch zu den "Strahlungen" gehören soll, als noch der "Nachreife" bedürftig vorerst zurückhält. Hier zeigt sich, wie sehr das, was der naive Leser für spontanen Niederschlag des Daseins von Tag zu Tag halten könnte, das Ergebnis hochüberlegter Auswahl und Appretur ist. Was Wert und Reiz des echten Dokuments ausmacht: das Dasein oder der Gedanke "saisi sur le vif" wird hier gebrochen durch die Rücksicht auf das Publikum, die schon bei der Niederschrift die Feder lenkt und damit die Unbefangenheit zerstört, und die vollends bei der "Nachreife" planvoll kontrolliert und feilt.

Aufschlußreiche Aussage

Das Tagebuch tritt so in den Dienst der Selbstinszenierung. Das heißt gewiß nicht, daß es seinen Anspruch auf Glaubhaftigkeit verlöre, wohl aber, daß sein Wahrheitsgehalt einen "propagandistischen" Beisatz erhält, den man gerade bei einem so bewußten Autor wie Jünger nie außer acht lassen darf. Man mag sogar zweifeln, ob gewisse Saloppheiten, die dem Tagebuch ein "echtes" Aussehen geben, nicht absichtlich eingesetzt oder stehen gelassen sind. Denn wie wäre es sonst zu erklären, wenn sich bei einem Stilkünstler von Jüngers Graden Plattheiten finden wie der Kommentar zu einem Grabstein für Julien Abondance, den er auf dem Friedhof von Clichy findet: "Ich weiß nun also, wo der Überfluß geblieben ist!"

Nachdem dieser notwendige Vorbehalt ausgesprochen ist, läßt sich um so bestimmter sagen, daß die Bedeutung von Jüngers "Strahlungen" schwerlich überschätzt werden kann. Gerade ein so umstrittener und problematischer Schriftsteller wie Ernst Jünger darf ja beanspruchen, ernst und genau genommen zu werden bei dem, was er von sich selber der Allgemeinheit mitzuteilen für gut hält. Auch ist bei ihm, dem es stets von neuem widerfährt, von Gegnern oder auch von Bewunderern zu einseitig aufgefaßt und in ein simplifizierendes Schema gezwängt zu werde, das Verlangen begreiflich, sich eingehend zu interpretieren. Dies nicht nur aus dem formalen Grund, um nicht, wie er es einmal an den Memoiren von Alexander Dumas tadelt, den Eindruck einer Wiese zu erwecken, auf der nur überlebensgroße Blüten" stehen, während es an Gras und Moos fehlt, sondern auch deshalb, weil eben die Details dieser Existenz, die bei anderen Autoren privat und beiläufig wirken, ja als Exhibitionismus eher abstoßen könnten, hier mit dazu verhelfen, die Vielschichtigkeit und Hintergründigkeit des Phänomens Ernst Jünger sichtbar zu machen. In welchen Pariser Vergnügungsstätten und in welcher Gesellschaft er Feste und Symposien feiert, wird in solchem Zusammenhang nicht minder aufschlußreich wie sein Verkehr mit französischen Literaten, Künstlern und Frauen; seine Museumsbesuche, sein Stöbern bei den Bonquinisten und seine ungemein vielseitige und abwechslungsreiche Lektüre bezeichnen ihn ebenso wie die geliebte und bei jeder Gelegenheit passioniert geübte "subtile Jagd" auf Insekten oder Naturbeobachtungen, denen er sich im Pariser Jardin des Plants so eifrig widmet wie auf seinen Frontgängen im Kaukasus. Sein Auge hat an Schärfe, sein Geist an kristallinischer Kälte nichts eingebüßt seit der Zeit, da seine ersten Veröffentlichungen die Aufmerksamkeit erregten; aber wie viel reicher entwickelt ist nun das Instrumentarium dieser Seele! Allein aus den Träumen, die Ernst Jünger in reicher Fülle verzeichnet, ließe sich die Spannweite eines Kosmos ermessen, dem Pracht und Licht spendender Schönheit gleich unmittelbar zu Gebote stehen wie Brand und Dunkelheit abgründigen Grauens. Und das Tagleben dieses Geistes wittert mit derselben Sensibilität die Essenz abendländischer Kultur in den traditionsgesättigten Winkeln und Häusern von Paris wie den Schrecken der "Schinderhütten" in denen Europas Moral, und der Vernichtungsbombardements, in denen die Zeugen seiner Vergangenheit und die Lebenden zumal zugrunde gehen.

Jüngers "Neue Theologie"

Kein Zweifel: dieser Offizier, der von seinem "Wartburgstübchen" im Stabe Stülpnagels aus den politischen und militärischen Ereignissen bis zum Mißlingen der Aktion des 20. Juli in der Nähe folgen konnte und hernach das Glück hatte, sich aus dem Strudel der Verfolgung nach Kirchhorst retten und dort die Endphase des Hitlerreiches beobachten zu können, war ein vielfach Gewandelter im Vergleich zu dem Kriegsfreiwilligen, der 1914 mit abenteuerlichen Erwartungen einem frisch-fröhlichen Kriege ausgezogen und in Stahlgewittern zu dem Manne gehärtet worden war, der den Soldaten und seine moderne Abart, den Arbeiter, zeitweilig enthusiastisch als die Gestalt der Zukunft hatte feiern können. Schon der Erzähler der "Marmor-Klippen" hatte dem Nihilismus des "Lemuren"-wesens zu lange ins Medusenantlitz geblickt, um nicht nur vor den Trabanten des "Oberförsters" sondern auch vor den Schlagetoten im Gefolge der "Mauretanier" Abscheu zu empfinden und sich schließlich aus dem Brande des Zusammenbruchs zu den lichten Höhen von "Alta Plana" zu flüchten. Den Emst jünger der "Strahlungen" drängt die sich vor seinen Augen vollziehende Zersetzung seiner alten Ideale - des Soldaten im untermenschlichen Landsknechtstum "Kniebolos", wie hier Hitler genannt wird, und des Arbeiters in jener Technik, der gleichzeitig Jüngers Bruder Friedrich Georg in seiner Schrift über die "Perfektion" den Prozeß machte - zu einer Selbstbesinnung. die sich in dem apokryph weithin verbreiteten Aufruf an die Jugend Europas "Der Friede" niederschlägt. Sein Entstehen wird begleitet von einer Auseinandersetzung mit der metaphysisch-religiösen Überlieferung des Abendlandes, der ein zweimaliges Studium beider Testamente der Bibel den Leitfaden liefert. Die Bemerkungen zu dieser Lektüre bilden den geistigen Schwerpunkt des Tagebuches. Sie zeigen Jünger unterwegs zu einer "neuen Theologie" sehr persönlichen Gepräges, die zu irgendeiner Konversion keine Aussicht eröffnet, sondern eher zu einer neuen, magischer Einschläge nicht entbehrenden, antiken mit christlichen Elementen verbindenden, Sinngebung des Lebens aus einem größeren, vom Tode her vollendeten Dasein führen scheint. (Dabei fällt es auf, daß Jüngers Vorstellungen einzig aus abendländischen Quellen gespeist sind, und da keinerlei Beziehung zu asiatischem Denken besteht; ein Traum in dem er sich von Japanem "mit einer aus Höflichkeit und Ekel gemischten Aufmerksamkeit" betrachtet sieht, bringt diese Fremdheit zum Asiatentum hübsch symbolisch zum Ausdruck. Auch mit seinen neuen Ansätzen zur Kontemplation bleibt Jünger ein reiner Abendländer.)

Und der alte Adam?

Kann man nun sagen, der Adept einer neuen Theologie den alten Adam abgelegt und einen neuen Menschen angezogen habe, der ihn befähigte, mit Überzeugungskraft als Apostel des Friedens und eines neuen Europa aufzutreten? Jünger selbst sieht offenbar keinen Bruch zwischen dem Autor der "Stahlgewitter" und dem der "Strahlungen", sondern will höchstens einen Unterschied zwischen seinem "Alten" und seinem "Neuen Testament" gelten lassen. Das muß allen zu denken geben, die schlichtweg von einer "Umkehr" bei ihm sprechen. So simpel liegen die Dinge bei einem differenzierten Menschen wie Ernst Jünger offenbar doch nicht. Wohl wäre es vermessen, voraussagen zu wollen, wohin jünger schließlich noch gelangen wird. Soweit aber die "Strahlungen" seine Stellung bestimmen lassen, behält sein Heroismus trotz aller inzwischen eingetretenen Sublimierung unverkennbar soldatische Züge. Bezeichnend dafür ist sein Verhalten, als sein ältester Sohn, Anfang 44 als Marinehelfer denunziert, dank der Intervention des Vaters den Häschern "Kniebolos" entrissen ist. Ernst Jünger hatte konsequenterweise aus seiner Einsicht, daß Hitlers System rechtens dem Untergang zutaumle und seine Siege ebenso verächtlich seien wie die Niederlagen, nur eine Folgerung ziehen können: den Jungen verschwinden zu lassen und selber unterzutauchen. Statt dessen kehrt er nach Kirchhorst zurück und ist stolz, als der Sohn noch geschwächt von seiner Haft, sich zu einer Panzerabteilung meldet; und als er bei diesem Einsatz fällt, hindert der tiefe Schmerz den Vater nicht, diesen Tod als Heldenopfer zu verklären, wobei sich in die Todesmetaphysik der neuen Theologie spürbar Reminiszenzen an den alten Kriegerglauben mischen, es sei "süß und ehrenvoll ..." Das soll gewiß nicht heißen, Jüngers "Neues Testament" sei nur eine Tarnung für ein fortlebendes naives Kämpfertum; aber es soll den Punkt bezeichnen, wo Jünger auch in seiner jetzigen Position von unentwegten Militaristen im Sinne ihrer Blut- und Opfermystik mißdeutet und ideologisch mißbraucht werden kann. Der Autor der "Strahlungen" würde die Lebenserfahrungen und Einsichten, von denen dieses Buch Kunde gibt, selber verleugnen, wenn er nicht alles täte, um solche simplifzierenden "Anhänger" abzuschütteln und den Weg zu vollenden, auf dem ihn der aufmerksame Leser seiner letzten Werke ein gutes Stück begleiten durfte.

zurück